Der Morgen brachte Frost. Die Sonne wagte sich noch nicht über den Horizont – ihr Licht kam ihr zuvor und tauchte die Spitzen der Blauen Wälder in zartes rosa. Das welke gefrorene Gras unter seinen Füssen raschelte trocken, als der Krieger sich müde und schwer auf einen der Grossen Steine setzte und seinen Blick nach Osten richtete, um den Sonnenaufgang in Ruhe abzuwarten. Er hatte keine Eile. Der Drache war besiegt. Im Moment gab es nichts mehr zu tun. Er verspürte eine seltsame Leere.
Der Grosse Stein war wärmer als die Umgebung. Der Krieger legte dankbar die Handflächen darauf und lächelte müde in sich hinein. Es war nur ein Stein. Gross und flach und warm und wie geschaffen für eine Rast, aber nur ein Stein, was kümmerte ihn der Grund. Dem Stein war es sicher egal.
Man sagt, die Grossen Steine beziehen ihre Wärme aus dem tiefsten Inneren der Erde, und so werde es immer sein, auch wenn der letzte Mensch seinen letzten Atemzug getan hat. Dann wird niemand da sein, um es zu bezeugen, dachte er. Oder vielleicht wird der letzte Mensch auf diesen Hügel steigen, um seinen letzten Sonnenaufgang willkommen zu heissen und es herauszufinden. Würde er enttäuscht sein zu erfahren, dass vor langer Zeit schon einmal jemand hier gesessen hat, oder würde es ihm seine Einsamkeit versüssen? Nach kurzem Zögern zog er einen silbernen Ring vom Mittelfinger der linken Hand und legte ihn neben sich auf den Stein. Hier wird er die Zeit bis zum letzten Sonnenaufgang überdauern, dachte er. Denn es ist verboten, sich den Grossen Steinen zu nähern, daran wird der Tod des Drachen nichts ändern. Denn die Menschen ändern sich nicht. Sie hüten alte Ängste mehr als neue Hoffnungen. Vertrauter Schmerz ist ihnen willkommener als frischer Mut.
Die Sonne liess immer noch auf sich warten. Es konnte nicht mehr lange dauern. Die linke Schulter pochte nur noch und blutete kaum. Komisch, denn die Wunde schien tief zu sein. Er hatte gespürt, wie die lange gebogene Kralle einen Knochen streifte. Die Wunde könnte sich infiziert haben, möglicherweise stirbt er gerade an dem Gift des Drachen – noch ein hartnäckiges und nie nachgewiesenes Gerücht. Vielleicht sollte er sich kurz hinlegen und sich von dem Stein wärmen lassen. Nicht schlafen, nur kurz die vor Müdigkeit brennenden Augen schliessen. Wann hatte er zum letzten Mal geschlafen? Er wusste es nicht. Seine Augenlider fühlten sich zu schwer an, um offen zu bleiben. Sein Kinn sank langsam auf die Brust, sein Atem wurde flach. Nur noch das Herz schlug seinen Takt, aber die Abstände wurden langsam grösser. Noch wenige Augenblicke, und aller Schmerz dieser Welt würde ihm für immer erspart bleiben. Die Sonne konnte ihm gestohlen bleiben.
In Zeitlupe hob sich seine rechte Hand, bewegte sich leblos zur linken Schulter, umfasste sie und drückte den Daumen mit aller Kraft in die Wunde. Der Krieger schrie auf, als der Schmerz seinen ganzen Körper durchdrang und ihm Tränen in die Augen trieb. Er verlagerte sein Gewicht nach vorne, stiess sich mit tauben Füssen ab, schnaubte und kippte vornüber ins vereiste Gras, wo er einige Sekunden lang liegen blieb, nach Atem ringend. Er schmeckte Blut. Mit jedem Herzschlag sendete seine Schulter verzweifelte Signale in Form von fürchterlichen Hitzewellen aus. Jedes Mal, wenn sie seinen Kopf erreichten, sah er Sterne. Er versuchte, den Kopf zu heben, und stöhnte, als ein starkes Schwindelgefühl ihn überkam, so als hätte die Welt um ihn herum plötzlich eine halbe Drehung nach hinten und dann eine volle nach vorne vollführt. Er erbrach laut und glaubte, sein gesamtes Inneres nach aussen zu stülpen. Aber was herauskam, war nur saure Luft. Er spuckte ein paar Mal und schaffte es schliesslich, die Augen nach vorne zu richten. Durch die Spitzen der Baumkronen am Horizont loderte die grelle Scheibe der aufgehenden Sonne.
„Interessant.“, sagte eine klare Stimme hinter ihm. Sagte es höhnisch, aber er hatte keine Kraft, um zornig zu sein.
"Verzieh dich.", sagte er, und nur ein Krächzen kam heraus.
"Wie bitte?", fragte die Stimme.
"Geh weg, Dämon.", wiederholte er, und diesmal gelang es etwas besser.
"Ohne Kenntnis meiner Identität schickt er mich fort? Ist das sein Ernst?", fragte die Stimme.
"Lass Ernst aus dem Spiel.", grinste der Krieger -eher ein wölfisches Zähnefletschen- und wirbelte auf den Knien herum. Rechte und linke Hand schleuderten gleichzeitig zwei kurze Wurfmesser in Richtung der vermuteten Quelle der höhnischen Stimme. Die Klingen schnitten zielsicher durch die kalte Morgenluft – und trafen ins Leere, segelten über die Klippe auf der anderen Seite des Drachenhügels, zum tiefen Fall verdammt. Die verletzte Schulter sandte beleidigt weitere Schmerzwellen durch seinen müden Körper.
"Jung ist er, der Recke. Talentiert. Jedoch ungeduldig. Nicht gelernt hat er, seinen Augen zu vertrauen. Entschlossenheit allein wird ihm seinen Weg durch das Dunkel nicht erleuchten können.", sprach die Stimme, jetzt von seiner linken Flanke, und gespielte Enttäuschung lag darin. Er blickte um sich, doch da war nichts auf jenem Hügel. Nur er und der Kadaver des Drachen, dessen dunkles Blut das welke Gras endgültig tötete, teilten den verbotenen Boden. Die junge Sonne spielte in den silbernen Schuppen des einst mächtigen Rückens der Kreatur.
"Zeig dich, Dämon.", fauchte er und ergriff zwei weitere Messer.
"So überzeugt ist er, einem Dämon gegenüberzustehen. Warum verschwendet er dann seine Messer?", wunderte sich die Stimme direkt vor ihm, aber noch immer keine Spur von ihrem Besitzer.
"Gefährlicher als ein Dämon ist nur, wer sich für einen ausgibt.", sprach er und sah es endlich. Über dem Stein, dessen trügerische Wärme ihn fast um sein Leben gebracht hatte, brach das Licht leicht und liess eine verschwommene Sillhouette erkennen, deren Fläche die Steine und den Kadaver hinter ihr verzerrten. Die Gestalt schwebte über dem Boden, und das, was ihr Kopf sein mochte, war neugierig (spöttisch?) zur Seite geneigt. Er ließ die Messer sinken.
"Was bist du?", fragte er, aber der kupferne Vorgeschmack eines Verdachts breitete sich bereits auf seiner Zunge aus.
"Nicht alles, was eines Körpers entbehrt, entbehrt eines Bewusstseins. Nicht alles, was des Bewusstseins entbehrt, ist frei von Stolz. Wir jedoch haben beides und sind daher wer, nicht was.", sagte das Ding und machte eine vielsagende Pause, während es ganz langsam und gemächlich in seine Richtung zu schweben begann. Es spielte den Lektor.
"Ich verbeuge mich nicht vor atmosphärischen Erscheinungen.", sagte er, aber es klang nicht so selbstsicher, wie er es vorgehabt hatte.
"Und doch steht er auf den Knien." Die Gestalt schien amüsiert.
"Nicht deinetwegen, Flikker.", spie er grimmig aus. Ein Teil von ihm fragte sich, durch den Schmerzschleier hindurch, woher er dieses Wort kannte. Und warum er das Gefühl hatte, es richtig angewendet zu haben. Er steckte die Wurfmesser ein, stellte ein Bein auf und erhob sich langsam, seine Schulter haltend. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, und er verharrte, vornübergebeugt, und befürchtete, wieder hinfallen zu müssen. Doch schliesslich wurde die Dunkelheit von einer Handvoll heller Flecken abgelöst. Mit einem letzten leisen Stöhnen, das er sich gern verkniffen hätte, richtete er sich auf.
"Er kennt uns also doch. Zumindest unseren Namen. Er erinnert sich.", freute sich die Gestalt sichtlich (hörbar), und doch war da etwas unechtes an dieser Stimme, etwas alarmierendes. Es schwebte sanft von dem Stein herunter und auf ihn zu.
"Eine kuriose Kandidatur. Und so herrlich unwissend.", zischelte es schlangenartig.
"Bleib weg von mir. Was willst du?", stammelte er. Plötzliche Panik mischte sich in seine Stimme. Irgendwie kannte er die Antwort, konnte aber nicht danach greifen. Er taumelte einige Schritte rückwärts, und behielt wie durch ein Wunder das Gleichgewicht. Etwas quälend Vertrautes war an diesem Augenblick, an diesem Ding, wie ein starkes dejá vù. Nur schien dieses Gefühl nicht singulär, sondern verschachtelt in sich selbst, in einer endlosen Anzahl unzähliger Varianten dieser Situation. Er bekam keine Luft. Seine Finger griffen hilflos nach dem Kragen seiner Lederrüstung und rissen an den Schnüren. Seine Schulter dröhnte, und der Kopf dröhnte mit, er fühlte, wie seine Knie nachgaben und er nach hinten kippte, doch es gab keinen Aufprall, er fiel weiter, tiefer und tiefer und dann war da nur noch Dunkelheit.
Der Hirte wusste gleich, dass etwas passiert war. Was genau, das liess sich nicht sagen. Noch nicht. Etwas Wichtiges. Etwas Ungewöhnliches, was vielleicht noch gefährlicher war. Allein der Gedanke daran erzeugte eine vergessen geglaubte, bis jetzt im Verborgenen schlummernde Vibration, die nun in Wellen durch seinen Körper wanderte, Gänsehaut hinterlassend. Dennoch zögerte er noch lange, trank zwei Schalen Tee, stopfte zwei Mal die Pfeife und klopfte sie zwei Mal auf dem Tisch aus, stocherte mit der Messerspitze in der Asche herum, wodurch er sich zwei strafende Blicke von der Frau einfing, die sich zu diesem Zweck zwei Augenblicke lang von ihren Kräuterbündeln löste. Dann stand er seufzend auf, schlenderte über die quietschenden Dielen zum Feuer des Kamins, ging in die Hocke und legte behutsam zwei Holzscheite nach, rückte sie über der Glut zurecht, so dass die Flammen alle Seiten zu fassen bekamen. Das Feuer umspielte seine Finger, versuchte, nach ihnen zu greifen, doch die erfahrene Hand fürchtet das Feuer nicht. So wie der erfahrene Mann nicht das Leben fürchtet, dachte er. Nach all diesen Jahren war es wohl wieder an der Zeit. Er richtete sich wieder auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und liess seinen Blick durch den Raum wandern. Kamin und Öllampe hüllten die karge Einrichtung in tänzelnde Schatten, liessen sie nach mehr aussehen, verliehen dem Zimmer Tiefe. Die Frau passte gut hinein, gaukelte Sicherheit vor. Er ging zurück zum Tisch, steckte das Messer in die Scheide an seinem Gürtel, nahm die alte Jacke von der Wand und zog sie an. Hinter ihm raschelte ein Kräuterbündel.
"Wenn du dich wieder besäufst oder zu dieser Hure gehst, brauchst du nicht wiederzukommen.", sagte sie kalt.
Wenn du wirklich leben würdest, bräuchte ich weder das Eine, noch das Andere, dachte er.
"Sie ist keine Hure.", murmelte er. Er sah sich um, überlegte kurz, nahm das faustgrosse Stück Brot vom Tisch und wickelte es in ein sauberes Tuch. Dann goss er den restlichen, mindestens so starken wie dunklen, Tee in die verbeulte Feldflasche und machte sie mit dem Vogelbeerbrand aus der grossen Bouteille voll. Er spürte ihren Blick auf seinem Hinterkopf, spürte die Frage in ihrem Geist auflodern, noch bevor sie sie aussprach:
„Was ist los?“ Besorgnis in ihrer Stimme.
Er stopfte Brot, Flasche, Tabak und Pfeife in den betagten Lederrucksack. Er ging in die Kammer, wühlte durch die Regale und kam mit Verbänden, einem Bündel Lederriemen, einigen Kräuterbündeln und einer kleinen Axt, die er hinter den Gurt steckte, heraus. Dann verstaute er alles in dem Sack, schwang ihn sich über die Schulter, nahm den guten Nussbaumstock und stiess die Tür auf. Eine klare, lauwarme Augustnacht hiess ihn mit frühem Mondlicht willkommen. Nur noch ein schmaler Strich fehlte zum Vollmond. Morgen also. Er musste die Nacht nutzen. Zikaden schrien ihre Leidenschaft hungrig dem Himmel entgegen, und Glühwürmchen kämpften verbissen gegen die Leuchtkraft der Sterne an. Am Rande der Wahrnehmung, tief in den Wäldern, heulte ein Wolf einen Bruder an, gefolgt von einer bereitwilligen Antwort, deutlich näher. Sein Schatten erstreckte sich über den kleinen Hof, eingerahmt vom warmen Schein der Häuslichkeit, die er hinter sich lassen würde, sobald er diese Tür schloss, womöglich für immer. Dieses Gefühl von Präsenz, von Realität, hatte er lange nicht mehr verspürt. Vielleicht zu lange. War er noch stark genug? Mutig genug? Ist er es jemals gewesen?
„Geh nicht.“ Nun zitterte ihre Stimme. Sie hatte endlich verstanden. Preiset den Herrn. Sie verstand, nicht zu verstehen, aber das reichte. Sie war es gewohnt, nicht zu verstehen. Sie kannte das Gefühl, sträubte sich davor, zu begreifen, wehrte sich gegen das tödliche Wissen, und dieser Kampf raubte ihr alle Kraft, saugte ihr das Leben aus, liess sie angsterfüllt dahinvegetieren. Angst ist genügsam, und sein mächtigster Verbündeter. Angst vor Verlust, die Stärkste von allen. Ihre einzige Form, eigentlich. Er hatte auch Angst, nur ein Narr hätte keine. Aber hatte er eine Wahl? Hat man nicht immer eine Wahl? Sagt man das nicht so, „des eigenen Glückes Schmied“? Nur ein Narr denkt dabei an Glück. Er seufzte und blieb mit dem Rücken zu ihr stehen.
„Es wird alles gut.“, sagte er und zwang sich, ruhig und überzeugt zu klingen. Schweigen füllte den Raum. Nur das Holz im Kamin barst zwei Mal und ließ sie zwei Mal zusammenzucken. Ganz leicht.
„Und wenn er dich..?“, fragte sie und zitterte und wagte nicht, es auszusprechen.
„Das ist nicht seine Entscheidung.“ Er sah es nicht, spürte aber, das sie weinte. Er blickte zu den Sternen, sah jedoch nur ihre Augen, die sich mit Tränen füllten. Augen, die er einmal geliebt hatte.
„Wenn der Vollmond ohne mich untergeht, verkauf das Vieh und fahr zu deiner Schwester.“, sagte er über die Schulter. Und wenn ich mit ihm untergehe, so sei es, dachte er und trat hinaus in die Nacht,
nach Westen. Vorbei an der windschiefen Hütte des blinden Iosif, dessen unzählige (ausnahmslos erlogene, aber meisterhaft dargebrachte) Geschichten über den Heiligen Krieg jedes Saufgelage erheiterten. Vorbei an der einzigen Dorfschänke, in der ebenjene Saufgelage jede Nacht stattfanden (so auch jetzt, dem Licht und dem Grölen nach zu urteilen). Vorbei an der Schmiede, deren helles Hämmern tagsüber viel vom Leben des Dorfes, die junge Tochter des Schmieds wiederum, Susanna (vom Vater behütet, von den Männern begehrt, beneidet und gefürchtet von deren Frauen), viel von dessen Schönheit ausmachte. Vorbei an der alten Kapelle, die in den letzten zehn Jahren vier Mal samt Priester abgebrannt und nie richtig restauriert worden war. Vorbei an dem seit Menschengedenken verlassenen Haus am Dorfrand, das beständig den Ruf eines Geisterhauses unter den Halbstarken aufrechterhielt, indem es, infolge von Mutproben, regelmässig für gebrochene Arme und Beine sorgte. Vorbei an den leerstehenden Pferdeställen und ewig provisorisch umzäunten Maisfeldern.
Weit hinter ihm gedämpfte heitere Laute. Der Hirte blieb stehen und blickte über die Schulter zu den Lichtern der Schänke zurück. Der Stammtisch hiess wohl gerade ein weiteres Mitglied willkommen. Etwas in ihm wollte umkehren, den Weg bis zur Schänke zurücklegen und reinplatzen, wie so viele Male zuvor. Ein grölendes Wilkommen war auch ihm garantiert. Männer würden näher zusammenrücken, ihm einen Platz in ihrer Mitte freimachend, schwielige Farmerhände würden auf seinen Rücken klopfen, die rosige Martha würde lächeln und ihm kokett zuzwinkern, ihm einen Krug Bier hinknallen und dabei seine Schulter mit ihrer voluminösen Brust streifen, rein zufällig, versteht sich. Das Zwinkern nun von den anderen Gästen hinnehmend, (alle wussten von Marthas Schwäche für den Hirten, der nicht nur einmal ihre Wärme erfuhr) würde er in die Runde blicken und etwas simples und warmherziges sagen. Männer würden nicken und Hört, Hört murmeln und ihre Krüge auf eine gute Ernte erheben. Alles wäre beim Alten.
Alles, aber auch nichts. Denn er würde es wissen. Und jenes Wissen könnte er mit niemandem teilen. Nicht einmal mit Martha, die für Trost geschaffen schien. Nicht, weil ihm niemand glauben würde. Es war einfach keine Sache, die Mitwisser duldete. Geheimnis der Person, jene Methode der Entscheidung, die sein Meister ihn lehrte, angewendet auf alle Zeiten, alle Welten, alle Schicksale. Er drehte sich wieder um, atmete drei Mal tief ein und aus und setzte seinen Marsch fort.
Von hier zog sich der staubige Weg hinunter zum Fuss des Hügels, schmiegte sich eine Meile lang an den eiskalten und steinigen Krötenbach (der längst keine Kröten beherbergte), durchquerte diesen brückenlos, wand sich in der Ferne, am alten Friedhof vorbei, den Kahlen Berg hinauf, dessen unerwartet dichtbewaldete Flanken reich an Pilzen und Wild waren, umschrieb die felsbesetzte Bergspitze und mündete auf der anderer Seite in Brukk. Brukk stellte das Tor zur Welt. Von dort aus schlängelten sich ebenso staubige Wege weiter nach Westen und Süden entlang des mächtigen Uanod, raus aus dem Hügelland, hinein in Kaiserliche Ländereien, und noch weiter, bis nach Kaiserstadt, mit ihren prächtigen Weingärten und Palästen, von alten Ouri-Bäumen überschattet, und dem schier grenzenlosen, pulsierenden Marktplatz, voller wundersamster Dinge und Gerüche.
Jenen Marktplatz sah der Hirte nur ein Mal, vor vielen Jahren, noch als Kind. Sein Vater hing in dessen Mitte, zusammen mit zwei Kumpanen und dem Hehler, der das Tafelsilber ankaufte. Es war Hochsommer und die Krähen machten sich gerade über ihre Augen her und stritten mit der bunten Hundemeute enthusiastisch um die besten Plätze. Der Soldat in der atemberaubend schimmernden Rüstung drückte ihm eine Silbermünze in die Hand, raufte ihm grob das Haar und liess ihn vor dem Schafott stehen. Drei Tage lang hingen die Leichen inmitten des geschäftigen Treibens. Drei Tage lang irrte er durch die endlosen Marktreihen, entfernte sich in einer unbewussten Spirale immer weiter von dem tödlichen Zentrum, dem Herzen dieses atmenden, sich ständig zersetzenden Organismus, umgeben von Tier- und Pflanzenleichen jeglicher Art, die immerzu zerhackt, gewogen und von menschlichen Krähen stückweise davongetragen wurden, unter immerwährendem, heiterem Streit. Er kaufte nie etwas. Die Silbermünze des Soldaten war sicher in seiner Faust verwahrt, diese wiederum in seiner Hosentasche, doppelt hält besser. Wenn er Hunger hatte, klaute er. Wenn er müde war, versteckte er sich in einer der zahllosen Wucherungen aus Getreidesäcken, Abfall und Holzkisten aller Grösse und Form, die er sich stets mit der unerwartet toleranten Hundemeute teilte.
Am vierten Tag erwachte er in einer leeren Obstkiste, überwand das Bedürfnis, das Loch im Magen zu verdrängen und den Schlaf des Vergessens wieder über sich hereinbrechen zu lassen, schlug vorsichtig die Plane zur Seite und erstarrte. Einen Fuss von seinem Gesicht entfernt hockte die hässlichste Marktkrähe, die er je gesehen hatte, auf dem Rand seiner Kiste und betrachtete ihn, den Kopf schiefgelegt, mit einem tiefschwarzen glasigen Auge. Jener Blick war unendlich kalt, unberechenbar, bedrohlich. Sie hatten ihn aufgespürt, überfallen, in die Ecke gedrängt. Er hätte schreien können, danach schlagen. Letztendlich hätte wahrscheinlich die kleinste Bewegung den unheimlichen Vogel verscheucht. Doch er war wie gelähmt. Jegliche Kraft war aus seinen Gliedern gewichen. Die Krähe schien seine Angst zu riechen und hüpfte seitwärts auf dem Rand, verringerte den Abstand zu seinem Gesicht. Er begriff plötzlich, dass sie nicht davor halt machen würde, von dem Weiß seiner Augen zu kosten, probeweise, und dass er nichts dagegen unternehmen würde, es nicht konnte. Und als der furchtbare Vogel den abgewetzten Schnabel öffnete und einen kehligen Laut von sich gab, kam dieser ihm vor wie ein Wort, ein fremdes, böses, mächtiges Wort, das ihn mit dem schrecklichsten aller Flüche zu belegen suchte. Jetzt erst kam der Schrei, drang aus ihm heraus wie eine versiegt geglaubte Quelle, stieß mit schmerzendem Druck seine sandige Kehle hinauf, schwoll zu unmenschlicher Lautstärke an, betäubte ihn selbst. Gleichzeitig strampelte er und fuchtelte panisch mit den Armen, schlug so heftig um sich, als wäre er in einer Spinnengrube erwacht, polterte mitsamt seiner Kiste zu Boden und brachte den halben Schuttberg zum Einsturz. Die Krähe schwang sich spielerisch in die klare Morgenluft, drehte ein paar Kreise über ihrem Opfer und zog, spöttisch keifend, von dannen, liess ihn in dem Müll zurück.
Der Hirte schüttelte trotzig den Kopf und brach die Erinnerung ab, verjagte sie in einen hinteren Winkel seines Geistes. Er brauchte jetzt einen klaren Kopf. Er war noch nicht in Gefahr, aber das würde sich schnell ändern. Und wenn es soweit war, musste es bereit sein. Bereitsein ist alles.
Zu seinen Füssen wand sich der Krötenbach rauschend durch sein steiniges Bett, spielte nebenbei mit dem Mond. Nach den üppigen Regenfällen der letzten Wochen führte er reichlich Wasser. Die Ernte versprach Überschuss. Vielleicht sollten sie dieses Jahr ein paar Taugenichtse aus Brukk hinzuziehen. Der Hirte ging in die Hocke und spritzte sich eine Handvoll eiskaltes Wasser ins Gesicht. Er spielte kurz mit dem Gedanken, die Wasserschläuche zu füllen, entschied aber dagegen. Wasser war jetzt nicht das primäre Problem, zusätzliches Gewicht wäre jedoch hinderlich; der kommende Tag würde ihm möglicherweise das letzte Bisschen Kraft abverlangen. Er rückte den Rucksack zurecht, hielt den Stock fest und überquerte das Wasser mit wenigen kraftvollen Sprüngen; seine Füsse fanden, der Dunkelheit zum Trotz, zielsicher Halt auf den rutschigen Steinen, die manch einen geschickten Jüngling zu Fall gebracht hätten. Nasse Füsse waren jetzt das letzte, was er brauchte. Die Wölfe würden sich über eine überdeutliche Fährte freuen, und sie waren nicht das Schlimmste, das ihm heute Nacht passieren konnte...
Am anderen Ufer des Bachs hielt er abermals inne und wagte einen letzten Blick zurück. Die wenigen Lichter des Dorfes lagen weit hinter ihm und schimmerten vage über dem Hügel. Vor ihm breitete sich majestätisch die Namenlose Ebene aus, deren üppige Wiesen so sehr von den Herden der umliegenden Dörfer geschätzt wurden.
Er war nun an der äußersten Grenze der Sicheren Gebiete angelangt. Hier fing das Niemandsland an, voller Mysterien und Gefahren. Der kalte Nebel des Morgens brach bereits langsam über das Land herein, kroch von den Hügeln herab, verprach einen neuen Tag, möglicherweise den letzten.
Der Grosse Stein war wärmer als die Umgebung. Der Krieger legte dankbar die Handflächen darauf und lächelte müde in sich hinein. Es war nur ein Stein. Gross und flach und warm und wie geschaffen für eine Rast, aber nur ein Stein, was kümmerte ihn der Grund. Dem Stein war es sicher egal.
Man sagt, die Grossen Steine beziehen ihre Wärme aus dem tiefsten Inneren der Erde, und so werde es immer sein, auch wenn der letzte Mensch seinen letzten Atemzug getan hat. Dann wird niemand da sein, um es zu bezeugen, dachte er. Oder vielleicht wird der letzte Mensch auf diesen Hügel steigen, um seinen letzten Sonnenaufgang willkommen zu heissen und es herauszufinden. Würde er enttäuscht sein zu erfahren, dass vor langer Zeit schon einmal jemand hier gesessen hat, oder würde es ihm seine Einsamkeit versüssen? Nach kurzem Zögern zog er einen silbernen Ring vom Mittelfinger der linken Hand und legte ihn neben sich auf den Stein. Hier wird er die Zeit bis zum letzten Sonnenaufgang überdauern, dachte er. Denn es ist verboten, sich den Grossen Steinen zu nähern, daran wird der Tod des Drachen nichts ändern. Denn die Menschen ändern sich nicht. Sie hüten alte Ängste mehr als neue Hoffnungen. Vertrauter Schmerz ist ihnen willkommener als frischer Mut.
Die Sonne liess immer noch auf sich warten. Es konnte nicht mehr lange dauern. Die linke Schulter pochte nur noch und blutete kaum. Komisch, denn die Wunde schien tief zu sein. Er hatte gespürt, wie die lange gebogene Kralle einen Knochen streifte. Die Wunde könnte sich infiziert haben, möglicherweise stirbt er gerade an dem Gift des Drachen – noch ein hartnäckiges und nie nachgewiesenes Gerücht. Vielleicht sollte er sich kurz hinlegen und sich von dem Stein wärmen lassen. Nicht schlafen, nur kurz die vor Müdigkeit brennenden Augen schliessen. Wann hatte er zum letzten Mal geschlafen? Er wusste es nicht. Seine Augenlider fühlten sich zu schwer an, um offen zu bleiben. Sein Kinn sank langsam auf die Brust, sein Atem wurde flach. Nur noch das Herz schlug seinen Takt, aber die Abstände wurden langsam grösser. Noch wenige Augenblicke, und aller Schmerz dieser Welt würde ihm für immer erspart bleiben. Die Sonne konnte ihm gestohlen bleiben.
In Zeitlupe hob sich seine rechte Hand, bewegte sich leblos zur linken Schulter, umfasste sie und drückte den Daumen mit aller Kraft in die Wunde. Der Krieger schrie auf, als der Schmerz seinen ganzen Körper durchdrang und ihm Tränen in die Augen trieb. Er verlagerte sein Gewicht nach vorne, stiess sich mit tauben Füssen ab, schnaubte und kippte vornüber ins vereiste Gras, wo er einige Sekunden lang liegen blieb, nach Atem ringend. Er schmeckte Blut. Mit jedem Herzschlag sendete seine Schulter verzweifelte Signale in Form von fürchterlichen Hitzewellen aus. Jedes Mal, wenn sie seinen Kopf erreichten, sah er Sterne. Er versuchte, den Kopf zu heben, und stöhnte, als ein starkes Schwindelgefühl ihn überkam, so als hätte die Welt um ihn herum plötzlich eine halbe Drehung nach hinten und dann eine volle nach vorne vollführt. Er erbrach laut und glaubte, sein gesamtes Inneres nach aussen zu stülpen. Aber was herauskam, war nur saure Luft. Er spuckte ein paar Mal und schaffte es schliesslich, die Augen nach vorne zu richten. Durch die Spitzen der Baumkronen am Horizont loderte die grelle Scheibe der aufgehenden Sonne.
„Interessant.“, sagte eine klare Stimme hinter ihm. Sagte es höhnisch, aber er hatte keine Kraft, um zornig zu sein.
"Verzieh dich.", sagte er, und nur ein Krächzen kam heraus.
"Wie bitte?", fragte die Stimme.
"Geh weg, Dämon.", wiederholte er, und diesmal gelang es etwas besser.
"Ohne Kenntnis meiner Identität schickt er mich fort? Ist das sein Ernst?", fragte die Stimme.
"Lass Ernst aus dem Spiel.", grinste der Krieger -eher ein wölfisches Zähnefletschen- und wirbelte auf den Knien herum. Rechte und linke Hand schleuderten gleichzeitig zwei kurze Wurfmesser in Richtung der vermuteten Quelle der höhnischen Stimme. Die Klingen schnitten zielsicher durch die kalte Morgenluft – und trafen ins Leere, segelten über die Klippe auf der anderen Seite des Drachenhügels, zum tiefen Fall verdammt. Die verletzte Schulter sandte beleidigt weitere Schmerzwellen durch seinen müden Körper.
"Jung ist er, der Recke. Talentiert. Jedoch ungeduldig. Nicht gelernt hat er, seinen Augen zu vertrauen. Entschlossenheit allein wird ihm seinen Weg durch das Dunkel nicht erleuchten können.", sprach die Stimme, jetzt von seiner linken Flanke, und gespielte Enttäuschung lag darin. Er blickte um sich, doch da war nichts auf jenem Hügel. Nur er und der Kadaver des Drachen, dessen dunkles Blut das welke Gras endgültig tötete, teilten den verbotenen Boden. Die junge Sonne spielte in den silbernen Schuppen des einst mächtigen Rückens der Kreatur.
"Zeig dich, Dämon.", fauchte er und ergriff zwei weitere Messer.
"So überzeugt ist er, einem Dämon gegenüberzustehen. Warum verschwendet er dann seine Messer?", wunderte sich die Stimme direkt vor ihm, aber noch immer keine Spur von ihrem Besitzer.
"Gefährlicher als ein Dämon ist nur, wer sich für einen ausgibt.", sprach er und sah es endlich. Über dem Stein, dessen trügerische Wärme ihn fast um sein Leben gebracht hatte, brach das Licht leicht und liess eine verschwommene Sillhouette erkennen, deren Fläche die Steine und den Kadaver hinter ihr verzerrten. Die Gestalt schwebte über dem Boden, und das, was ihr Kopf sein mochte, war neugierig (spöttisch?) zur Seite geneigt. Er ließ die Messer sinken.
"Was bist du?", fragte er, aber der kupferne Vorgeschmack eines Verdachts breitete sich bereits auf seiner Zunge aus.
"Nicht alles, was eines Körpers entbehrt, entbehrt eines Bewusstseins. Nicht alles, was des Bewusstseins entbehrt, ist frei von Stolz. Wir jedoch haben beides und sind daher wer, nicht was.", sagte das Ding und machte eine vielsagende Pause, während es ganz langsam und gemächlich in seine Richtung zu schweben begann. Es spielte den Lektor.
"Ich verbeuge mich nicht vor atmosphärischen Erscheinungen.", sagte er, aber es klang nicht so selbstsicher, wie er es vorgehabt hatte.
"Und doch steht er auf den Knien." Die Gestalt schien amüsiert.
"Nicht deinetwegen, Flikker.", spie er grimmig aus. Ein Teil von ihm fragte sich, durch den Schmerzschleier hindurch, woher er dieses Wort kannte. Und warum er das Gefühl hatte, es richtig angewendet zu haben. Er steckte die Wurfmesser ein, stellte ein Bein auf und erhob sich langsam, seine Schulter haltend. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, und er verharrte, vornübergebeugt, und befürchtete, wieder hinfallen zu müssen. Doch schliesslich wurde die Dunkelheit von einer Handvoll heller Flecken abgelöst. Mit einem letzten leisen Stöhnen, das er sich gern verkniffen hätte, richtete er sich auf.
"Er kennt uns also doch. Zumindest unseren Namen. Er erinnert sich.", freute sich die Gestalt sichtlich (hörbar), und doch war da etwas unechtes an dieser Stimme, etwas alarmierendes. Es schwebte sanft von dem Stein herunter und auf ihn zu.
"Eine kuriose Kandidatur. Und so herrlich unwissend.", zischelte es schlangenartig.
"Bleib weg von mir. Was willst du?", stammelte er. Plötzliche Panik mischte sich in seine Stimme. Irgendwie kannte er die Antwort, konnte aber nicht danach greifen. Er taumelte einige Schritte rückwärts, und behielt wie durch ein Wunder das Gleichgewicht. Etwas quälend Vertrautes war an diesem Augenblick, an diesem Ding, wie ein starkes dejá vù. Nur schien dieses Gefühl nicht singulär, sondern verschachtelt in sich selbst, in einer endlosen Anzahl unzähliger Varianten dieser Situation. Er bekam keine Luft. Seine Finger griffen hilflos nach dem Kragen seiner Lederrüstung und rissen an den Schnüren. Seine Schulter dröhnte, und der Kopf dröhnte mit, er fühlte, wie seine Knie nachgaben und er nach hinten kippte, doch es gab keinen Aufprall, er fiel weiter, tiefer und tiefer und dann war da nur noch Dunkelheit.
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Der Hirte wusste gleich, dass etwas passiert war. Was genau, das liess sich nicht sagen. Noch nicht. Etwas Wichtiges. Etwas Ungewöhnliches, was vielleicht noch gefährlicher war. Allein der Gedanke daran erzeugte eine vergessen geglaubte, bis jetzt im Verborgenen schlummernde Vibration, die nun in Wellen durch seinen Körper wanderte, Gänsehaut hinterlassend. Dennoch zögerte er noch lange, trank zwei Schalen Tee, stopfte zwei Mal die Pfeife und klopfte sie zwei Mal auf dem Tisch aus, stocherte mit der Messerspitze in der Asche herum, wodurch er sich zwei strafende Blicke von der Frau einfing, die sich zu diesem Zweck zwei Augenblicke lang von ihren Kräuterbündeln löste. Dann stand er seufzend auf, schlenderte über die quietschenden Dielen zum Feuer des Kamins, ging in die Hocke und legte behutsam zwei Holzscheite nach, rückte sie über der Glut zurecht, so dass die Flammen alle Seiten zu fassen bekamen. Das Feuer umspielte seine Finger, versuchte, nach ihnen zu greifen, doch die erfahrene Hand fürchtet das Feuer nicht. So wie der erfahrene Mann nicht das Leben fürchtet, dachte er. Nach all diesen Jahren war es wohl wieder an der Zeit. Er richtete sich wieder auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und liess seinen Blick durch den Raum wandern. Kamin und Öllampe hüllten die karge Einrichtung in tänzelnde Schatten, liessen sie nach mehr aussehen, verliehen dem Zimmer Tiefe. Die Frau passte gut hinein, gaukelte Sicherheit vor. Er ging zurück zum Tisch, steckte das Messer in die Scheide an seinem Gürtel, nahm die alte Jacke von der Wand und zog sie an. Hinter ihm raschelte ein Kräuterbündel.
"Wenn du dich wieder besäufst oder zu dieser Hure gehst, brauchst du nicht wiederzukommen.", sagte sie kalt.
Wenn du wirklich leben würdest, bräuchte ich weder das Eine, noch das Andere, dachte er.
"Sie ist keine Hure.", murmelte er. Er sah sich um, überlegte kurz, nahm das faustgrosse Stück Brot vom Tisch und wickelte es in ein sauberes Tuch. Dann goss er den restlichen, mindestens so starken wie dunklen, Tee in die verbeulte Feldflasche und machte sie mit dem Vogelbeerbrand aus der grossen Bouteille voll. Er spürte ihren Blick auf seinem Hinterkopf, spürte die Frage in ihrem Geist auflodern, noch bevor sie sie aussprach:
„Was ist los?“ Besorgnis in ihrer Stimme.
Er stopfte Brot, Flasche, Tabak und Pfeife in den betagten Lederrucksack. Er ging in die Kammer, wühlte durch die Regale und kam mit Verbänden, einem Bündel Lederriemen, einigen Kräuterbündeln und einer kleinen Axt, die er hinter den Gurt steckte, heraus. Dann verstaute er alles in dem Sack, schwang ihn sich über die Schulter, nahm den guten Nussbaumstock und stiess die Tür auf. Eine klare, lauwarme Augustnacht hiess ihn mit frühem Mondlicht willkommen. Nur noch ein schmaler Strich fehlte zum Vollmond. Morgen also. Er musste die Nacht nutzen. Zikaden schrien ihre Leidenschaft hungrig dem Himmel entgegen, und Glühwürmchen kämpften verbissen gegen die Leuchtkraft der Sterne an. Am Rande der Wahrnehmung, tief in den Wäldern, heulte ein Wolf einen Bruder an, gefolgt von einer bereitwilligen Antwort, deutlich näher. Sein Schatten erstreckte sich über den kleinen Hof, eingerahmt vom warmen Schein der Häuslichkeit, die er hinter sich lassen würde, sobald er diese Tür schloss, womöglich für immer. Dieses Gefühl von Präsenz, von Realität, hatte er lange nicht mehr verspürt. Vielleicht zu lange. War er noch stark genug? Mutig genug? Ist er es jemals gewesen?
„Geh nicht.“ Nun zitterte ihre Stimme. Sie hatte endlich verstanden. Preiset den Herrn. Sie verstand, nicht zu verstehen, aber das reichte. Sie war es gewohnt, nicht zu verstehen. Sie kannte das Gefühl, sträubte sich davor, zu begreifen, wehrte sich gegen das tödliche Wissen, und dieser Kampf raubte ihr alle Kraft, saugte ihr das Leben aus, liess sie angsterfüllt dahinvegetieren. Angst ist genügsam, und sein mächtigster Verbündeter. Angst vor Verlust, die Stärkste von allen. Ihre einzige Form, eigentlich. Er hatte auch Angst, nur ein Narr hätte keine. Aber hatte er eine Wahl? Hat man nicht immer eine Wahl? Sagt man das nicht so, „des eigenen Glückes Schmied“? Nur ein Narr denkt dabei an Glück. Er seufzte und blieb mit dem Rücken zu ihr stehen.
„Es wird alles gut.“, sagte er und zwang sich, ruhig und überzeugt zu klingen. Schweigen füllte den Raum. Nur das Holz im Kamin barst zwei Mal und ließ sie zwei Mal zusammenzucken. Ganz leicht.
„Und wenn er dich..?“, fragte sie und zitterte und wagte nicht, es auszusprechen.
„Das ist nicht seine Entscheidung.“ Er sah es nicht, spürte aber, das sie weinte. Er blickte zu den Sternen, sah jedoch nur ihre Augen, die sich mit Tränen füllten. Augen, die er einmal geliebt hatte.
„Wenn der Vollmond ohne mich untergeht, verkauf das Vieh und fahr zu deiner Schwester.“, sagte er über die Schulter. Und wenn ich mit ihm untergehe, so sei es, dachte er und trat hinaus in die Nacht,
* * *
nach Westen. Vorbei an der windschiefen Hütte des blinden Iosif, dessen unzählige (ausnahmslos erlogene, aber meisterhaft dargebrachte) Geschichten über den Heiligen Krieg jedes Saufgelage erheiterten. Vorbei an der einzigen Dorfschänke, in der ebenjene Saufgelage jede Nacht stattfanden (so auch jetzt, dem Licht und dem Grölen nach zu urteilen). Vorbei an der Schmiede, deren helles Hämmern tagsüber viel vom Leben des Dorfes, die junge Tochter des Schmieds wiederum, Susanna (vom Vater behütet, von den Männern begehrt, beneidet und gefürchtet von deren Frauen), viel von dessen Schönheit ausmachte. Vorbei an der alten Kapelle, die in den letzten zehn Jahren vier Mal samt Priester abgebrannt und nie richtig restauriert worden war. Vorbei an dem seit Menschengedenken verlassenen Haus am Dorfrand, das beständig den Ruf eines Geisterhauses unter den Halbstarken aufrechterhielt, indem es, infolge von Mutproben, regelmässig für gebrochene Arme und Beine sorgte. Vorbei an den leerstehenden Pferdeställen und ewig provisorisch umzäunten Maisfeldern.
Weit hinter ihm gedämpfte heitere Laute. Der Hirte blieb stehen und blickte über die Schulter zu den Lichtern der Schänke zurück. Der Stammtisch hiess wohl gerade ein weiteres Mitglied willkommen. Etwas in ihm wollte umkehren, den Weg bis zur Schänke zurücklegen und reinplatzen, wie so viele Male zuvor. Ein grölendes Wilkommen war auch ihm garantiert. Männer würden näher zusammenrücken, ihm einen Platz in ihrer Mitte freimachend, schwielige Farmerhände würden auf seinen Rücken klopfen, die rosige Martha würde lächeln und ihm kokett zuzwinkern, ihm einen Krug Bier hinknallen und dabei seine Schulter mit ihrer voluminösen Brust streifen, rein zufällig, versteht sich. Das Zwinkern nun von den anderen Gästen hinnehmend, (alle wussten von Marthas Schwäche für den Hirten, der nicht nur einmal ihre Wärme erfuhr) würde er in die Runde blicken und etwas simples und warmherziges sagen. Männer würden nicken und Hört, Hört murmeln und ihre Krüge auf eine gute Ernte erheben. Alles wäre beim Alten.
Alles, aber auch nichts. Denn er würde es wissen. Und jenes Wissen könnte er mit niemandem teilen. Nicht einmal mit Martha, die für Trost geschaffen schien. Nicht, weil ihm niemand glauben würde. Es war einfach keine Sache, die Mitwisser duldete. Geheimnis der Person, jene Methode der Entscheidung, die sein Meister ihn lehrte, angewendet auf alle Zeiten, alle Welten, alle Schicksale. Er drehte sich wieder um, atmete drei Mal tief ein und aus und setzte seinen Marsch fort.
Von hier zog sich der staubige Weg hinunter zum Fuss des Hügels, schmiegte sich eine Meile lang an den eiskalten und steinigen Krötenbach (der längst keine Kröten beherbergte), durchquerte diesen brückenlos, wand sich in der Ferne, am alten Friedhof vorbei, den Kahlen Berg hinauf, dessen unerwartet dichtbewaldete Flanken reich an Pilzen und Wild waren, umschrieb die felsbesetzte Bergspitze und mündete auf der anderer Seite in Brukk. Brukk stellte das Tor zur Welt. Von dort aus schlängelten sich ebenso staubige Wege weiter nach Westen und Süden entlang des mächtigen Uanod, raus aus dem Hügelland, hinein in Kaiserliche Ländereien, und noch weiter, bis nach Kaiserstadt, mit ihren prächtigen Weingärten und Palästen, von alten Ouri-Bäumen überschattet, und dem schier grenzenlosen, pulsierenden Marktplatz, voller wundersamster Dinge und Gerüche.
Jenen Marktplatz sah der Hirte nur ein Mal, vor vielen Jahren, noch als Kind. Sein Vater hing in dessen Mitte, zusammen mit zwei Kumpanen und dem Hehler, der das Tafelsilber ankaufte. Es war Hochsommer und die Krähen machten sich gerade über ihre Augen her und stritten mit der bunten Hundemeute enthusiastisch um die besten Plätze. Der Soldat in der atemberaubend schimmernden Rüstung drückte ihm eine Silbermünze in die Hand, raufte ihm grob das Haar und liess ihn vor dem Schafott stehen. Drei Tage lang hingen die Leichen inmitten des geschäftigen Treibens. Drei Tage lang irrte er durch die endlosen Marktreihen, entfernte sich in einer unbewussten Spirale immer weiter von dem tödlichen Zentrum, dem Herzen dieses atmenden, sich ständig zersetzenden Organismus, umgeben von Tier- und Pflanzenleichen jeglicher Art, die immerzu zerhackt, gewogen und von menschlichen Krähen stückweise davongetragen wurden, unter immerwährendem, heiterem Streit. Er kaufte nie etwas. Die Silbermünze des Soldaten war sicher in seiner Faust verwahrt, diese wiederum in seiner Hosentasche, doppelt hält besser. Wenn er Hunger hatte, klaute er. Wenn er müde war, versteckte er sich in einer der zahllosen Wucherungen aus Getreidesäcken, Abfall und Holzkisten aller Grösse und Form, die er sich stets mit der unerwartet toleranten Hundemeute teilte.
Am vierten Tag erwachte er in einer leeren Obstkiste, überwand das Bedürfnis, das Loch im Magen zu verdrängen und den Schlaf des Vergessens wieder über sich hereinbrechen zu lassen, schlug vorsichtig die Plane zur Seite und erstarrte. Einen Fuss von seinem Gesicht entfernt hockte die hässlichste Marktkrähe, die er je gesehen hatte, auf dem Rand seiner Kiste und betrachtete ihn, den Kopf schiefgelegt, mit einem tiefschwarzen glasigen Auge. Jener Blick war unendlich kalt, unberechenbar, bedrohlich. Sie hatten ihn aufgespürt, überfallen, in die Ecke gedrängt. Er hätte schreien können, danach schlagen. Letztendlich hätte wahrscheinlich die kleinste Bewegung den unheimlichen Vogel verscheucht. Doch er war wie gelähmt. Jegliche Kraft war aus seinen Gliedern gewichen. Die Krähe schien seine Angst zu riechen und hüpfte seitwärts auf dem Rand, verringerte den Abstand zu seinem Gesicht. Er begriff plötzlich, dass sie nicht davor halt machen würde, von dem Weiß seiner Augen zu kosten, probeweise, und dass er nichts dagegen unternehmen würde, es nicht konnte. Und als der furchtbare Vogel den abgewetzten Schnabel öffnete und einen kehligen Laut von sich gab, kam dieser ihm vor wie ein Wort, ein fremdes, böses, mächtiges Wort, das ihn mit dem schrecklichsten aller Flüche zu belegen suchte. Jetzt erst kam der Schrei, drang aus ihm heraus wie eine versiegt geglaubte Quelle, stieß mit schmerzendem Druck seine sandige Kehle hinauf, schwoll zu unmenschlicher Lautstärke an, betäubte ihn selbst. Gleichzeitig strampelte er und fuchtelte panisch mit den Armen, schlug so heftig um sich, als wäre er in einer Spinnengrube erwacht, polterte mitsamt seiner Kiste zu Boden und brachte den halben Schuttberg zum Einsturz. Die Krähe schwang sich spielerisch in die klare Morgenluft, drehte ein paar Kreise über ihrem Opfer und zog, spöttisch keifend, von dannen, liess ihn in dem Müll zurück.
Der Hirte schüttelte trotzig den Kopf und brach die Erinnerung ab, verjagte sie in einen hinteren Winkel seines Geistes. Er brauchte jetzt einen klaren Kopf. Er war noch nicht in Gefahr, aber das würde sich schnell ändern. Und wenn es soweit war, musste es bereit sein. Bereitsein ist alles.
Zu seinen Füssen wand sich der Krötenbach rauschend durch sein steiniges Bett, spielte nebenbei mit dem Mond. Nach den üppigen Regenfällen der letzten Wochen führte er reichlich Wasser. Die Ernte versprach Überschuss. Vielleicht sollten sie dieses Jahr ein paar Taugenichtse aus Brukk hinzuziehen. Der Hirte ging in die Hocke und spritzte sich eine Handvoll eiskaltes Wasser ins Gesicht. Er spielte kurz mit dem Gedanken, die Wasserschläuche zu füllen, entschied aber dagegen. Wasser war jetzt nicht das primäre Problem, zusätzliches Gewicht wäre jedoch hinderlich; der kommende Tag würde ihm möglicherweise das letzte Bisschen Kraft abverlangen. Er rückte den Rucksack zurecht, hielt den Stock fest und überquerte das Wasser mit wenigen kraftvollen Sprüngen; seine Füsse fanden, der Dunkelheit zum Trotz, zielsicher Halt auf den rutschigen Steinen, die manch einen geschickten Jüngling zu Fall gebracht hätten. Nasse Füsse waren jetzt das letzte, was er brauchte. Die Wölfe würden sich über eine überdeutliche Fährte freuen, und sie waren nicht das Schlimmste, das ihm heute Nacht passieren konnte...
Am anderen Ufer des Bachs hielt er abermals inne und wagte einen letzten Blick zurück. Die wenigen Lichter des Dorfes lagen weit hinter ihm und schimmerten vage über dem Hügel. Vor ihm breitete sich majestätisch die Namenlose Ebene aus, deren üppige Wiesen so sehr von den Herden der umliegenden Dörfer geschätzt wurden.
Er war nun an der äußersten Grenze der Sicheren Gebiete angelangt. Hier fing das Niemandsland an, voller Mysterien und Gefahren. Der kalte Nebel des Morgens brach bereits langsam über das Land herein, kroch von den Hügeln herab, verprach einen neuen Tag, möglicherweise den letzten.
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